als PDF lesen

Erschienen in: DAS MAGAZIN, 22.08.2020

VERDE MARE

Oder: Wie ich die Farbe meines Lebens entdeckte.

Am Tag, als ich mich in die Farbe des Meeres verliebte, zeigte sich dieses von seiner düstersten Seite. Als dunkler Block, der nur durch kleine Spitzen von den Regentropfen Struktur erhielt, lag es da, unter der Strandpromenade von Nervi. Es war Februar, und im nahen Genua kam niemand auf die Idee, bei diesem Wetter am Meer spazieren zu gehen. Ausser Roland und mir.

Roland hatte für ein halbes Jahr ein Künstleratelier in der Stadt und zerlegte dort einen grünen Fiat Panda in Einzelstücke. Ich war eine von vielen Bekannten, die er eingeladen hatte, um ein Stück dieses Autos nach Zürich zu bringen, wo er es schliesslich in einem Museum wieder zusammenbauen wollte. Der grüne Fiat Panda war ein Sondermodell, das 1992 zusammen mit einem Modell in Pink auf den Markt kam, erzählte er mir auf unserem Spaziergang. Auf einem Roadtrip durch Italien habe er seinen Freund Paolo gefragt, was es eigentlich mit diesem Fiat auf sich habe, der ihnen ständig begegnete. Paolo sagte nur: «This is a verde mare.»

Ich fand das Meeresgrün in einem Kaff im Aargau wieder, als Kunstlederbezug in einem Spunten, der seine beste Zeit hinter sich hatte. Und ich bemerkte, dass die Fensterläden am Haus meiner Grossmutter in dieser Farbe gestrichen waren, der Hauseingang, das Garagentor, der Briefkasten.

Als ich die Farbe ein paar Monate später in Kalifornien überall sah, in Restaurants, als Schriftzug, auf Taschen, als Handgriff im Bus, verstand ich, dass verde mare gar nicht die Farbe des Meeres ist. Im Land der verkauften Träume begriff ich erst, dass diese Farbe nur eine Projektion ist. Denn das Meer hat keine Farbe. Es ist weder blau, wie wir gewöhnlich sagen, weil wir nicht genau hinschauen, noch meeresgrün noch weinfarben, wie Homer schrieb. Nein, das Meer hat alle möglichen Farben, wie die Schriftstellerin Ilma Rakusa über das Meer ihrer Kindheit schreibt: «Das Meer war blau und grün und türkis und grau und aschfarben und schwarz, aber auch weiss und rosa und orange und golden und silbern. Ein Spiegel des Himmels und jeden Tag anders.»

Dieses verde mare, das mir so gefiel, war lediglich eine von zig möglichen Schattierungen, eine bestimmte Perspektive auf die unendlichen Wassermengen, die weniger von den Breitengraden und dem Einfall der Sonne als von Wünschen und Vorstellungen bestimmt war. Verde mare war die Art und Weise, wie ich das Meer sehen wollte, ein Versprechen für diesen perfekten Tag am Meer, an dem alles leicht und sorglos ist.

Ob dieser Tag real ist und das Meer jemals so aussieht, spielt keine Rolle. Die Farbe dieses beliebten Sondermodells ist eine Erzählung, eine Fiktion, auch in Italien. So schreibt eine italienische Bloggerin, dass nur frustrierte Personen, die von selbst auferlegten Verpflichtungen und Erwartungen erdrückt werden, dieses Grün nicht mögen. Sie verortet die Farbe nicht in Nervi oder sonst wo an der italienischen Küste, sondern auf Bora Bora und den Malediven. Verde mare ist eine Sehnsuchtsfarbe.

Wassily Kandinsky beschrieb Farbe einmal als «ein Mittel, einen direkten Einfluss auf die Seele auszuüben». Heute spricht man eher davon, dass Farbimpulse den Hormonhaushalt regeln. So genau will ich das gar nicht wissen. Bei mir triggert diese Farbe etwas Positives, sie weckt eine Zuversicht und Leichtigkeit – Eigenschaften, die mir eher abgehen. Sie verkörpert das unbeschwerte Leben, das wir meinen, wenn wir Italianità sagen, und das wir suchen, wenn wir ans Meer fahren.

Auch wenn mich diese Farbe glücklich macht, entgleitet sie mir immer wieder. Farben sind nicht wie Düfte. Rieche ich einen Duft, der mit starken Emotionen verbunden ist, irre ich mich nie. Den Geruch von verbranntem Toast kann ich nicht falsch riechen. So wie ich ein Parfüm, das jemand getragen hat, dem ich nicht mehr begegnen will, auch nach Jahren wiedererkenne. Mit dieser Farbe ist es anders. Mit der Zeit bin ich nicht mehr ganz sicher, wie sie aussieht, ob diese Tasse wirklich die richtige Farbe hat oder doch einen Ton zu grün ist. Ich kann die Farbe nicht abrufen, brauche immer wieder eine Auffrischung.

Inzwischen trage ich ein kleines Stück des Fiats als Farbmuster im Portemonnaie mit mir. Das Haus meiner Grossmutter hat die Prüfung bestanden, andere Dinge nicht. Doch jetzt, da ich immer ein Stück verde mare mittrage, frage ich mich auch, was dieser Vergleich soll. Das Kleinod in meinem Münzfach sagt mir auch, dass es nicht auf die Nuancen ankommt. Dass ich die Dinge nicht so eng sehen sollte, dass die Fantasie oft schöner ist als die Realität und ständiges Vergleichen nicht glücklich macht. Dazu passt auch, was ich bei der Recherche für diesen Text entdecke: Das Sondermodell des Fiat Panda heisst offiziell verde, auch Occasionmodelle werden nicht als verde mare verkauft. Vielleicht hat nur Paolo ihn so genannt. Doch hätte ich damals in Nervi nicht dieses Versprechen vom Meer gehört, hätten die Farbe und ich uns bestimmt verpasst.

In diesem Sommer des Virus, in dem ein Auto wieder Freiheit verspricht wie damals in den 90ern, bin ich wie besessen von der Farbe. Wie so viele andere bin ich nicht ans Meer gefahren. Nicht weil es kompliziert oder gefährlich gewesen wäre oder ungewiss, ob man ohne Quarantäne zurückkommt. Sondern weil das, was ich eigentlich suche, nicht das Meer ist. Und weil ich diesen Sommer nicht daran glaube, es im Süden zu finden. Dafür zücke ich manchmal mein Stück verde mare und zeige es herum. Meinem farbenblinden Bruder kommt eine Schildkröte in den Sinn, meine Freundin Tina denkt an die Calanque und an postmoderne Architektur. Es sind alles Dinge, die weit weg sind, von Grösse und Weite erzählen. Tina spricht auch vom Südseeblau, das es hier nicht geben kann, weil die Sonne nie im richtigen Winkel steht. Und sie sagt: «Lass uns auswandern!»

Ich finde meine Farbe schliesslich an einem unerwarteten Ort. In einer Pause, als dieser Text stockt, gehe ich ans Fenster und schaue auf die Limmat, auf die Badeanstalt Unterer Letten, wo die Ersten schon von der Brücke ins Wasser springen. Da sehe ich, dass das Wasser fast exakt das Grün hat, dem ich nachträume. Mein Stück verde mare liegt gleich hinter mir auf dem Schreibtisch. Ich lasse es liegen.